Die Chronica vom zerrissenen Königreich

Wie eine Königin die Trennung wollte, doch der Sturm danach ihr Herz zerfraß

In alten Tagen, als die Monde noch größer schienen und das Flüstern der Wälder die Gedanken der Menschen trug, lebten eine Königin und ein König in einem gemeinsamen Reich. Sie waren nicht immer im Einklang gewesen, doch sie hielten viele Winter hindurch das Banner ihrer Familie hoch und teilten den Schutz über ihren kleinen Prinzen.

Doch eines Tages begehrte die Königin neue Wege. Ihr Herz verlangte nach Freiheit, ihr Geist nach eigner Macht. So sprach sie zum König:

„Ich will die Tore öffnen. Jeder möge seinen eigenen Pfad wandeln.“

Der König, überrascht und doch friedvoll gesinnt, neigte sein Haupt und erwiderte:

„So möge es geschehen. Ich werde den Frieden wahren und den Prinzen in Ehren halten.“

Die Tore des Schlosses öffneten sich, und die Wege trennten sich mit dem Klang von schweren Ketten.


Erstes Kapitel: Der Wind der Entscheidung

Die Königin wanderte in ihr neues Gemach, gewiss, dass Freiheit süßer schmecke als Verpflichtung. Allein in den Nächten kamen kalte Boten: Zweifel, Einsamkeit und die unerbittliche Stille des Alleinseins.

Der König hingegen zog sich in ein schlichtes Lager zurück, fern von prunkvollen Hallen, doch mit festem Willen, seinem Sohn ein gerechter Vater zu sein.

Die Königin spürte schnell, dass die Trennung nur im Geiste leicht gewesen war. Denn während ihr Verstand frei sein wollte, schlug ihr Herz in Unruhe. Die Mauern ihres neuen Gemachs wurden eng, und über ihr schwebte ein Schatten.


Zweites Kapitel: Der Drache im Tal

In ihrer Not erschuf die Königin sich ein Bild:
Sie sah den König nicht mehr als jenen treuen Gefährten, den der Prinz liebte, sondern als Drachen, der aus dem dunklen Tal aufstieg.

Ein Drache ist ein dankbares Wesen für jene, die ihre eigenen Ängste nicht tragen können. Er ist groß, gefährlich, leicht zu beschuldigen.

„Er ist schuld an meinem Unfrieden“, rief sie ihren Höflingen zu.
Doch der Drache war keiner. Der König trug kein Feuer im Herzen, sondern sehnsüchtige Güte.

Doch je mehr die Königin ihre innere Unruhe dem König zuschrieb, desto größer erschien der Drache in ihrer Vorstellung. Seine Schwingen füllten die Himmel, obwohl er in Wahrheit still in seinem kleinen Heim saß und die Spielzeuge des Prinzen sortierte.


Drittes Kapitel: Das Princess-Spiel

So begann das, was die Chronisten später das Spiel der verwundeten Krone nannten.

Die Königin stellte sich selbst in das Licht der verletzten Heldin, um ihren Platz im Reich zu sichern.
Sie sprach:

„Ich allein bin diejenige, die handelt zum Wohle des Prinzen. Der König bringt Unruhe. Ich muss mich schützen.“

Sie schmückte ihre Worte mit Tränen, obwohl ihr Herz nicht wusste, ob sie wirklich weinte oder sich nur an die Erzählung klammerte, die ihr Halt gab.

Höflinge nickten, denn das Reich liebt Tragödien und starke Figuren.
Der König hingegen sprach nicht laut. Er war ein Fels, grau und unbeirrbar.

So entstand ein Hofdrama, das viele Boten über die Lande jagte, viele Pergamente füllte und manchen Ratssaal zum Brodeln brachte.


Viertes Kapitel: Die Erschöpfung der Reiche

Mit jedem neuen Streit entzündeten sich neue Feuer.
Boten ritten mit Beschwerden durchs Land.
Schreiber erstellten endlose Schriften.
Räte stritten über Zuständigkeiten, und der Prinz sah von seinem Turm aus, wie zwei Reiche erschöpft und verwirrt aneinander vorbeiliefen.

Die Chroniken berichten:

„Hätte die Königin es vermocht, ihren inneren Schmerz zuerst zu betrachten, statt ihn auf den König zu werfen, so wären viele Kämpfe nie geführt worden.“

Und wahrlich:
Dutzende Verfahren, hunderte Einwürfe, ungezählte Streitreden hätten nie das Licht der Kerzen gesehen.

Denn was wie ein Krieg zwischen zwei Reichen aussah, war in Wahrheit ein Krieg im Herzen einer einzigen Person.


Fünftes Kapitel: Das neue Bündnis – Das Wechselmodell

Eines Tages trat ein alter Weiser vor beide Throne. Er sprach:

„Ihr führt einen Kampf, den niemand gewinnen kann. Errichtet keine Mauern zwischen euren Reichen. Teilt stattdessen die Herrschaft über den Prinzen, und Frieden wird einkehren.“

Dies nannten die Menschen später das Wechselmodell
zwei Burgen, zwei Kronen, ein gemeinsamer Prinz.

Die beiden sollten gleiche Wege einschlagen, gleiche Verantwortung tragen und das Kind nicht als Pfand im Krieg halten, sondern als Erbe zweier verbundener Königreiche.

Mit dieser neuen Ordnung verschwanden viele alte Schatten.
Der Drache wurde wieder zum König.
Die Königin fand Ruhe in ihrem eigenen Reich.
Und der Prinz konnte frei zwischen beiden Burgen wandeln, ohne Angst vor Sturm oder Misstrauen.


Schlusswort der Chronisten

Und so enden die Aufzeichnungen der alten Pergamente:

„Nicht die Trennung war das Unglück, sondern die Angst, die ihr folgte.
Nicht der König war der Drache, sondern das Herz der Königin, das sich selbst nicht verstand.
Und Frieden ward erst möglich, als beide Reiche den Prinzen gemeinsam trugen.“

Viele Kämpfe, Ritte und Ratsbeschlüsse wären niemals nötig gewesen,
wenn die Königin ihren inneren Sturm erkannt,
und der König nicht zum Sinnbild dieses Sturmes gemacht worden wäre.

So lehren uns die alten Schriften:

Ein geteiltes Reich ist kein verlorenes Reich.
Doch ein ungeklärtes Herz entfacht Kriege, die keiner gewinnen kann.

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